's Wirts-Everl von Kohlberg

Eine Geschichte aus dunkler Zeit

vom Buschn-Hans

Vorwort

Lassen Sie sich in eine Zeit entführen, in der Sie sicher nicht gelebt haben möchten! Wir schreiben das Jahr 1634 und der unselige Dreißigjährige Krieg wütet schon lange im Land. Natürlich nicht ständig, doch aber alle paar Jahre ziehen die verfeindeten Heere der katholischen Kaiserlichen oder der Protestantischen durch die Oberpfalz. Sie töten und verwüsten alles, wohin sie auch kommen.

Kohlberg, ein Marktflecken zwischen Amberg und Weiden wurde bis dahin schon etwa sechs Mal von den raubenden und mordenden Soldatenhorden geplündert. Diese zogen in einer Breite von bis zu dreißig Kilometern entlang ihrer Marschrouten. Sie mussten sich und ihre mitziehenden Angehörigen aus dem Lande heraus ernähren. Also nahmen sie auf ihrem Weg alles mit, was nur irgendwie essbar war oder zu Geld gemacht werden konnte.

Auch die Pest, die zweite Geißel dieser schlimmen Zeit hatte ihre Opfer gefordert. Von den knapp sechzig Anwesen zu Kriegsbeginn war gerade noch die Hälfte belegt. Doch die Einwohner wollten ihre Heimat nicht aufgeben. Wohin sollten sie auch gehen? überall in unserem Land sah es ähnlich schlimm aus. Also baute man nach jeder Plünderung seine Häuser, und Ställe wieder auf, sammelte sein Vieh aus den Wäldern ein und bestellte erneut die steinigen Felder. Das Leben musste ja weiter gehen. Bis nach ein paar Jahren der nächste Überfall kam, war es dann relativ friedlich im Ort.

Kohlberg war damals Kreuzungspunkt mehrerer Fernstraßen, was der Bevölkerung vor dem Krieg durch die vorbeiziehenden Wagenkolonnen einen gewissen Zuverdienst einbrachte. Um die, dem Sankt Nikolaus geweihte Kirche herum, lag der Friedhof. Aber es gab noch genügend Platz, um dort die Wägen der Kaufmannszüge über Nacht sicher abzustellen. Auch weil um das Ganze herum, eine massive Wehrmauer samt Wachturm die Anlage schützte. Der Pfarrhof, das Frühmessnerhaus und die Schule lagen auch nur wenige Schritte außen daneben. Nordwestlich davon gab es dann gleich einen mit Sträuchern bestandenen Abhang, den Fuchsberg. Die Kirche steht noch heute an ihrem Platz, der ehemalige Friedhof ist nun ein Kriegerhain mit großen Bäumen. Beschützt von den Resten der alten Verteidigungsmauer und dem - heute so genannten - Schwedenturm. Aus der Schule wurde das evangelische Gemeindehaus. Lediglich der wuchtige Bau des alten Pfarrhofes und das Frühmessnerhaus sind verschwunden.

Bergwärts, also nach Süden hin, standen vor vierhundert Jahren links und rechts des Dorfangers die Bauernhöfe in je einer Häuserzeile. In der Nähe der Kirche auch das Schlegl-Anwesen vor dem Fuchsberg-Rücken. Damals war das ein kleiner Bauernhof mit einer Schankwirtschaft im Haus und ein paar Nebengebäuden im Hof. Schlegl ist dabei der Hausname. Diese halten sich bei uns oft Jahrhunderte lang, während die Besitzernamen doch öfter wechseln. Auch dieses Haus gibt es noch.

Wissenswert ist auch, dass; der Mutterboden in Kohlberg aus Rotliegendem besteht. Das ist, grob gesagt, verdichtetes Ablagerungsmaterial aus rotem Lehm und mürbem Granit. Entstanden vor mehr als 250 Millionen Jahren, als das Variszische Gebirge durch Wind und Wetter über lange Zeit hinweg abgetragen wurde und sich die Senken mit Schutt füllten. Und der Ort hat noch eine weitere Besonderheit: an wenigstens vier Stellen beginnt in den Felsenkellern der Häuser ein Fluchtgang ins äußere. Meist nur etwa 1,80 Meter hoch und etwa 80 Zentimeter breit wurden diese sonderbar gewundenen Stollen von außen her in Richtung der Keller in den brüchigen Fels gegraben. Von wem, wann und warum, ist unbekannt.

Auch im Schlegl-Anwesen gibt es so einen Gang. Oben, vom Haus her, gelangt man erst mal in einen niedrigen kleinen Kellerraum, von dem aus eine Treppe aus aufgestellten Ziegelsteinen etwa dreizehn Stufen tiefer in zwei weitere Räume führt. Dort ist in der Mitte eine breite Abflussrinne für Tropfwasser, die über drei Stufen hinunter in den Eingang des Fluchtstollens führt. Dieser endet nach etwa dreißig Metern außen am Fuchsberg-Abhang. Wichtig ist auch noch, dass; am unteren Ende der Treppe bis vor wenigen Jahren ein großer Granitbottich stand. Oben drauf ein ebenfalls granitener Deckel, so schwer, dass; ihn nur ein Erwachsener verrutschen konnte. Diese wildsteinernen Fassln, wie sie hierzulande genannt werden, brauchte man früher als es noch keine Kühlanlagen gab. Darin wurde Fleisch zur Lagerung eingepökelt, "aa'gsuurt", wie wir sagen. Die immer kühle Kellertemperatur hielt das "Schweinerne" in der Salzlake lange verzehrfähig. Das Fass hat die heutige Besitzerin vor einigen Jahren verkauft. Sie kannte die Geschichte noch nicht, die sich darum rankt.

Doch kommen wir nun zum Wirts-Everl. Genau genommen war sie ja auf den Namen Eva-Maria getauft, aber alle nannten sie nur Everl oder Wirts-Everl. Schon seit ihrer Geburt war die Wirtsstube mit ihr Zuhause. Dort wurde sie gestillt, wenn gerade niemand da war, lernte Krabbeln und Laufen und bald danach brachte sie den Gästen auch schon die Getränke oder ihre Brotzeiten an den Tisch. In dem Raum, etwa so groß wie heute ein Wohnzimmer, standen damals nur Bänke an den Wänden, drei größere Tische und ein paar klobige Stühle davor. Am Ausgang zur Küche ein kleiner Schanktisch mit dem Holzfass Bier darauf und etliche Maßkrüge aus Steingut und Zinn hingen an Holzleisten. Ein paar Kienfackeln in Wandhaltern beleuchteten abends die Stube. Das war alles.

Die Wirtsleute hatten spät geheiratet und das Everl ließ sich dann auch einige Jahre Zeit, um auf die Welt zu kommen. Jetzt, im Jahre 1634 war sie gerade Zwölf geworden. Ein frecher, süßer Fratz mit brauner Haut, die dunklen Haare zu langen Zöpfen geflochten. Sie war der ganze Stolz der Eltern, zumal sich keine weiteren Kinder mehr bei ihnen einstellen wollten. Klar auch, dass die Fuhrleute gerne bei den Schlegls eine Rast einlegten! "Everl, du wirst aamal aa hoasser Ofer," grinste ihr so mancher stoppelbärtige Kerl ins junge Gesicht. Sie wusste - noch - nicht, warum.

Der Überfall

Am 13. Mai 1634 hatte die katholische kaiserliche Armee die Schlacht bei Liegnitz in Schlesien verloren. In Prag wurden daraufhin die Truppen Kaiser Ferdinands II. neu zusammengestellt und in Richtung Regensburg in Marsch geschickt. Am 26. Mai rückte die Hauptmacht von über 10.000 Mann von Bärnau her in die Oberpfalz ein. Doch noch ist Donnerstag, der 25. Mai. Ein warmer, sonniger, Morgen kündigt sich an, Vögel zwitschern in den Bäumen. Da bricht das Grauen über den Ort herein. Ein "Detachement", also eine kleine Truppe von etwa zwei Dutzend Soldaten überfällt die ahnungslosen Menschen. Der wilde Haufen besteht aus Österreichern und Kroaten, angeblich angeführt von einem gewissen Schönborn. über ihn ist weiter nichts bekannt. Pfarrer Christoph Neidhard notiert 1656 nur die Kroaten als "Crabatten" im Kirchenbuch. Ihr Ziel: rauben, plündern, Vieh, Getreide und alles, was irgendwie brauchbar ist, für die nachfolgende Truppe erbeuten.

Ein Teil der Kohlberger kann sich noch hinter die Wehrmauern der Kirche flüchten, vielen jedoch gelingt dies nicht mehr. Die mordende Soldateska haust fürchterlich unter den Einheimischen. Die Schlegls füttern gerade ihr Vieh im Stall, das Everl schläft noch, als fürchterliches Geschrei vom Marktplatz her ertönt. Sie haben keine Chance mehr, die rettenden Kirchenmauern zu erreichen. Es bleibt ihnen nur die Flucht in den Keller und durch den Tunnel dann ins Gebüsch am Hang.

Everl wirft in der Küche schnell noch einen Laib Brot und ein Stück geräuchertes Fleisch, auf ein Tuch, packt die vier Enden und läuft barfuß hinter ihren Eltern her in Richtung Keller. Diese warten bereits unten an der Treppe auf sie. "Schnell, beeil dich", ruft ihr der Vater zu und das ist verhängnisvoll. Die kleinen Füße huschen drei, vier Stufen über die feuchten Ziegelsteine, dann rutscht sie aus. Fällt, kullert, schreit und stößt irgendwie an. Es kracht, wie wenn etwas bricht. Sie weint laut, als sie ihr Vater unten aufhebt und auf die Beine stellen will. Der linke Fuß steht komisch vom Körper weg. Womöglich ist das Schien- und das Wadenbein gebrochen. Was tun? Von oben hören sie bereits die Häscher in der Wirtsstube wüten.

Everl kann keinen Schritt mehr laufen und der Fluchtgang ist viel zu schmal, um sie alleine oder zu zweit zu tragen. Sie müssen eine andere Lösung finden und zwar schnell. Jeden Moment können die Soldaten den Kellereingang finden. Was dann mit ihnen geschieht, weiß niemand. Ihr Vater muss - so schwer ihm das auch fällt - eine Entscheidung treffen. Sein Blick fällt auf den großen Granittrog am Ende der Treppe. Ist er die Rettung? Vielleicht! "Everl, wir setzen dich da rein", bestimmt er. "Und holen dich so schnell es geht wieder raus! Aber du musst da drin mucksmäuschenstill sein, wenn die Soldaten da unten sind!" Everl nickt, sie kann nicht sprechen, dicke Tränen laufen über ihr Gesicht. Aber sie vertraut ihrem Vater, auch wenn sie jetzt vor lauter Angst kaum atmen kann.

Die Schlegl-Eltern schieben den schweren Deckel des Bottichs zur Seite. Der Vater hebt, so sorgsam er kann, seine Tochter in den leeren Trog. Nie wird er die angstvollen Augen vergessen, die ihm jetzt entgegenblicken. "Wir holen dich da wieder raus! Versprochen," tröstet er sein Everl. Ihre Mutter macht nun etwas, von dem sie keinesfalls ahnen kann, was es für Folgen hat: sie nimmt ihr silbernes Kettchen vom Hals. Drei kleine Anhänger baumeln daran, Kreuz, Herz und Anker. Die Symbole für Glaube, Liebe und Hoffnung. Sie drückt es Everl in die kleine Mädchenhand: "Nimm's, es wird dein Herz beschützen," sagt sie. Die kleinen Finger schließen sich fest um das Amulett. Dann schieben beide den Deckel über das hoffentlich sichere Versteck. Die kaiserliche Mördertruppe ist bereits im oberen Keller, als die Schlegls sich in den dunklen Gang hineintasten. Drei Mann poltern mit Fackeln die Treppen herunter, sehen sich kurz in dem leeren Raum um. Everl beißt sich im Bottich in den Arm, um nicht vor Angst zu stöhnen, aber die Soldaten beachten das Granitgefäß nicht weiter und steigen auch nicht in den Tunnel. Sie trampeln wieder hoch.

Rettungsversuch

Der Vormittag, Mittag und Abend gehen ins Land. Im Keller ist es still. Für das kleine Mädchen im dunklen, steinernen Trog dehnen sich die Stunden endlos. Sie kann sich kaum bewegen, alles schmerzt, nicht nur der gebrochene Fuß. Und sie hat Angst. Todesangst! Wird dieser Bottich zu ihrem Sarg? Sie weiß es nicht. Grauen durchschüttelt den kleinen Körper. Wie lange dauert es noch, bis ihre Eltern sie befreien? Zweifel ziehen in ihr Herz. Werden sie überhaupt kommen? Hoffentlich!

Die Schlegl-Eltern kamen ungesehen ins Freie und waren tagsüber nicht untätig. Aus einer großen Viehdecke, die sie in einer Scheune fanden und ein paar Stecken fertigten sie eine provisorische Trage. Aus harzigen ästen, Stofffetzen und Teer machten sie Fackeln. Bis zum Abend mussten beide noch warten, erst dann war es ungefährlich, wieder in den Gang zu gehen um ihr geliebtes Kind zu befreien. Immer wieder trösteten sie sich gegenseitig, wenn sie ein Weinkrampf schüttelte.

Dann war es endlich genügend dunkel. Im Markt oben war kein Geschrei mehr, nur heller Schein flammte hinter einzelnen Häusern. Die Soldateska betrank sich wohl am Lagerfeuer. So leise es ging tappten die Schlegls durch das Gebüsch zum Eingang des Stollens. Dort war es stockfinster. Sie zündeten vorsichtig die mitgebrachten Fackeln an und tasteten sich im Gang vorwärts. Bis zu seinem Ende. "Everl", rief der Vater verhalten. Aus dem Steintrog kam ein leises Wimmern als Antwort. Er atmete auf. Vielleicht wurde ja doch noch alles gut!

Was er nicht wusste, war, dass doch ein Wachposten das Fackellicht am Stolleneingang kurz gesehen hatte und leise Alarm gab. Eine Handvoll Soldaten polterten bewaffnet in den oberen Keller, gerade als sich die Schlegls aus dem Fluchtgang zwängten. Sie mussten schleunigst den Rückzug antreten. Die Häscher folgten ihnen diesmal mit Laternen in den Gang. Am eigentlich rettenden Ende warteten aber schon vier, fünf weitere aus der Mördertruppe auf die Flüchtenden. Man packte sie, brüllte sie an, was sie da drinnen wollten und riss ihnen die Kleider vom Leib. Auch die konnte man ja zu Geld machen. Dann fielen mehrere Männer gleichzeitig über die Schlegl-Mutter her. Sie und ihr Mann wehrten sich verzweifelt, aber es half nichts. Ein paar kräftige Schläge mit den Kolben der Musketen beendete beider Leben. Das Everl ahnte davon nichts.

Kohlberg brennt

Die saß wimmernd vor Schmerzen in ihrem Gefängnis. Tieftraurig und hoffnungslos. Hatte sie die Stimme ihres Vaters nur geträumt? Aber warum waren dann die Soldaten in den Keller gestürmt? Sie wusste keine Antwort darauf. Und jetzt war alles wieder still. Totenstill.

Dann dämmerte oben der Morgen des 26. Mai. 1634. Der schwärzeste Tag des Marktes Kohlberg. Die Soldateska rüstete zum Aufbruch. Nicht mit Kind und Kegel, sondern mit Vieh, Hausrat und Waren aller Art zogen sie ab in Richtung Hirschau. Nicht, ohne vorher alle Häuser, Ställe und Scheunen des Marktes in Brand zu setzen. Die meist hölzernen Gebäude und die mit Schilfrohr oder Schindeln gedeckten Dächer brannten schnell lichterloh. Auch Kirche, Schul- und Pfarrhaus wurde ein Raub der Flammen. Nur ein abseits gelegenes Häuschen blieb von dem Inferno verschont. Das Schlegl-Anwesen brannte komplett mit ab. Die schwarzen Balken glimmten und qualmten noch tagelang, bevor sie in sich zusammenstürzten und den Eingang des Kellers gleich mit verschütteten.

Die vorerst noch im Ort verbliebenen Bewohner fanden am nächsten Tag die erschlagenen Wirtsleute. Vom Everl aber fehlte jede Spur. "Die haben sicher die Kaiserlichen mitgenommen", wurde gemutmaßt. Junge Männer wurden damals oft zum Kriegsdienst gezwungen und Mädchen als "Frischfleisch" für die Soldaten entführt. Oft auch noch sehr junge. Dass jemand in den Fluchtgang reingehen und nachsehen hätte können, darauf kam damals keiner.

So weiß bis heute niemand, wie lange das Wirts-Everl noch in ihrem Versteck ausharrte, ehe der Trog zu ihrem Sarg wurde. Niemand kann ermessen, wie einsam und gottserbärmlich elend das junge Menschenkind seine letzten Tage und Stunden durchlitt. Kein Mensch kann ahnen, wie sehr sie sich abmühte, den schweren Deckel zur Seite zu rücken. Vergeblich, ihre schwachen Kräfte reichten dazu nicht aus. Einfach grauenvoll, so ein Schicksal!

Lange nachher

Es dauerte Jahre, bis sich im Ort wieder neues Leben regte. Die geflohenen Menschen kehrten zurück und der unselige Krieg wurde irgendwann beendet. Das Land lag buchstäblich am Boden. Doch nach und nach bekam der Ort wieder mehr Häuser und auch Kirche, Pfarrhof und Schule erstanden neu. Das ehemalige Schlegl-Gebäude war aber Jahrzehnte später immer noch ein Trümmerhaufen, denn es gab ja keine Nachfolger. Auf dem Schuttberg wuchsen Unkraut und alte, verkohlte Balken rotteten vor sich hin. Gleich daneben hatte einer ein neues Haus errichtet, auch mit einer Wirtsstube drin und er wurde bald auch Schlegl-Wirt genannt. So weit, so gut.

Erst einer von dessen Nachfolgern hatte dann so um 1730 die Idee, den Schutthaufen abzutragen, um da ein Schlachthaus an das Gebäude anzubauen. Beim Wegräumen des Gerümpels entdeckte man den oberen Kellerraum und die Treppe in das feuchte Untergeschoss. Es war ein ähnlich schöner Frühlingstag, wie damals im Mai 1634. Mit drei Mann stapfte der neue Schlegl-Wirt vorsichtig die rutschigen Stufen hinunter. Sie hatten Fackeln mit dabei. Dann standen die vier vor dem granitenen Bottich mit dem Deckel darauf. "Vielleicht is dou drin nuu aa fette Sau aa'gsuurt", lachte einer.

Gemeinsam hoben sie den Deckel herunter und leuchteten in den Hohlraum. "Oh Gott," und "Jessas, Maria und Josef" schrien alle gleichzeitig und sprangen entsetzt zurück. Zu schauderhaft war das, was sie sahen. Es drehte sich ihnen der Magen um vor Grauen. Gleich danach standen alle vier an der Abflussrinne und - ja - sie kotzten, soviel sie nur konnten. Es dauerte einige Zeit, bevor sie vorsichtig erneut in den Bottich leuchteten. Hell schimmerten ihnen auf halber Höhe die blanken Knochen eines Kinderkopfes entgegen. In den leeren Augenhöhlen stand Wasser, so, als würde die Tote immer noch weinen. über die bleichen Schulterknochen und den Brustkorb waren Haare von zwei Zöpfen verteilt. Der Rest des Skeletts steckte in einer ekligen braunen Brühe, die wohl einst die Weichteile dieses jungen Menschen waren.

Als sich die Männer wenigstens einigermaßen wieder in der Gewalt hatten, sagte der Schlegl-Wirt: "Sepp, gäih affe und hol an groußn Holzbottich, aa poor Schafln und Schepfer!" Das Skelett in dem Trog war ja sicher ein Christenmensch und den musste man doch im Gottesacker beerdigen. So nannte man damals den Friedhof. Der Sepp stapfte die Stufen hinauf und verbreitete oben natürlich sofort die grausige Nachricht. Wie ein Lauffeuer wurde sie sofort von Haus zu Haus weiter getragen. Die Leute kamen in Scharen, um zu sehen, was sich da ereignet haben sollte.

Der Sepp kam mit Bottich und Werkzeug wieder in den Keller. Zwei Mann leuchteten, die anderen beiden hoben vorsichtig die Knochen aus dem Fass und legten sie auf die Treppenstufen. Dann kam der eklige Teil. Die stinkende Brühe musste in den Bottich geschöpft werden. Immer wieder lagen Knochen auf den Schaufeln und in den Schöpfern. Auch das gebrochene Schienbein und das Wadenbein. Die Männer konnten sich darauf keinen Reim machen. Der Bottich war schon fast leer, als der nächste Schock kam. Auf der Schaufel lag plötzlich ein Menschenherz! Es sah so frisch aus, als wäre es gerade erst dem Körper entnommen worden. Außen herumgewickelt noch ein kleines, silbernes Kettchen mit drei Anhängern: Kreuz, Herz und Anker. Im Schein der Fackeln sah es so aus, als würde das Menschenherz plötzlich pulsieren. ... Blub, ... blub, ... blub ... So, als würde es mit letzter Kraft noch Blut durch die Adern pumpen. Die Männer schüttelte es erneut vor Grauen.

Schnell packten sie die Knochen mit in den Bottich, das Herz oben drauf und beeilten sich, aus dem Todeskeller raus zu kommen. Oben wartete schon die neugierige Menge. Flugs liefen die vier über den Marktplatz in den Friedhofbereich vor der Kirchentür. Dort hatte Pfarrer Isaak Besold bereits einen schmalen Tisch aufgebaut, schwarze Decken darauf gelegt, das kleine Standkruzifix hingestellt und sein Gebetbuch vor sich liegen. Damals war es Brauch, dass; Fremde, Mörder, Selbstmörder und ungetauft verstorbene Kinder nur vor der Kirche ausgesegnet werden durften, bevor man sie im hintersten Teil des Gottesackers begrub.

Die Männer stellten schwer atmend ihren Bottich vor dem Tischchen ab und traten zurück. Mit ernstem, sehr ernstem Gesicht blickte der Pfarrer lange auf den Inhalt des Gefäßes. Auch er sah das frisch erscheinende Herz mit dem Kettchen darum. Bedächtig zog er ein weißes Tuch aus seinem Talar, etwa so groß, wie ein Taschentuch. Damit nahm er vorsichtig das kleine Herz in die Hand, streckte diese zu den Anwesenden hin und erschauderte selbst, was nun geschah. Das Herzchen pulsierte wirklich! Poch, ... poch, ... poch, er spürte es durch den Stoff in seiner Hand zucken! Die Neugierigen ringsum sahen es auch. Ein Schrei ging durch die Menge, Frauen bekreuzigten sich, die Männer starrten mit großen Augen auf das unheimliche Schauspiel.

Sachte legte der Geistliche das pochende Etwas im Tuch auf die schwarze Tischdecke. Es pulsierte noch immer auf der weißen Unterlage. Schwer atmend und öfter stockend sprach der Geistliche dann die Sterbegebete und das Vaterunser. Beim Schlußsatz: "Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen" hatte er kaum noch die Stimme in der Gewalt, seine Hände umklammerten die Tischkante. Da schrieen die Leute erneut auf, denn das pochende kleine Herz auf dem Tuch wurde plötzlich größer und größer. Dann lag es kurz still und sackte anschließend zusammen. Kleiner und kleiner wurde das Fleischstück, bis es schließlich ganz verschwand und nur noch ein paar wäßrige Flecken und das kleine Kettchen auf der weißen Unterlage sichtbar waren.

Pfarrer Besold schnaufte schwer, nahm das Tuch mit dem Kettchen drin sorgfältig an den vier Ecken und knotete es zu einem Bündel zusammen. Dann trug er es in die Kirche und legte alles in die rechte Ecke des leeren Tabernakelgehäuses im Altar. Dort ruhte das kleine Bündel Jahrzehnte lang unbeachtet und verstaubte allmählich. Eines Tages jedoch war es nicht mehr an seinem Platz. Einfach verschwunden. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass auch in den Kirchen Glaube, Liebe und Hoffnung irgendwie verloren gehen können. Vielleicht für immer.

Nachsatz

Am Anfang konnten Sie lesen, dass in Kohlberg vier solcher Fluchtgänge bekannt sind. Zwei davon wurden in den letzten Jahren begangen, einer davon ist der Gang im Schlegl-Keller. Dem anderen, weitaus interessanteren Gang im Härtl-Anwesen haben etliche Personen im Sommer 2015 einen Besuch abgestattet. Mit dabei waren auch Herr Doktor H., ein bekannter Geologe, seine Gattin, welche als Rangerin Geopark-Touren führt und deren etwa 14-Jährige Tochter. Bei der Vorbereitung einer Tour in den Schlegl-Keller in 2016 fragte ich bei Doktor H. telefonisch an, ob er eventuell auch daran teilnehmen wolle. Seine Antwort: "Ja gerne. Aber es passt mir erst an einem Samstag im November". Dann wollte er höflich noch wissen, ob denn auch seine Gattin wieder mit dabei sein dürfe. "Aber klar, und natürlich auch ihre hübsche Tochter," antwortete ich ihm. Da meinte er: "Nun ja, wissen sie, die hat inzwischen andere Interessen, als mit uns in alte Keller zu steigen. Aber, ... wenn da vielleicht etwas Gruseliges dabei wäre, ... dann vielleicht schon", ergänzte er. "Na, dem Mädchen kann ja vielleicht geholfen werden", dachte ich mir. Und so entstand die Geschichte vom Wirts-Everl von Kohlberg.

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Lageplan von Schleglkeller (links) und Härtlkeller mit ihren Fluchtgängen.



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Die Kellertreppe heute



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Nur noch ein naßes Loch zeigt den Standort des Granittroges jetzt noch an.

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Walter Krügelstein, der letzte Schleglwirt vor dem Einstieg zum Fluchtgang.



Autor und Fotos: Buschn-Hans
Telefon: 09608 357